Streit über Behindertenpolitik

Ein Vertreter der Behinderten in Bremen wirft dem Pflegewissenschaftler Heinz Rothgang vor, er lasse sich von den Kranken- und Pflegekassen vor den Karren spannen. Quelle "Weser-Kurier" 

Die Forderung des Bremer Pflegewissenschaftlers Heinz Rothgang von der Universität Bremen nach mehr Pflegeplätzen und Kurzzeitpflege für Behinderte unter 60 Jahren stößt auf massive Kritik. In einem Brief an den Wissenschaftler fordert der ehemalige Staatsrat für Soziales in der Bremer Landesregierung, Horst Frehe, die Zahl der Heimplätze zu reduzieren – und den gehandicapten Menschen stattdessen persönliche Assistenten für das Leben im eigenen Wohnumfeld zur Seite zu stellen. Nur das ermögliche ihnen ein selbstbestimmtes Leben und die volle gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, so Frehe.

Rothgang hatte im WESER-KURIER die Ergebnisse des Barmer-Pflegereports 2017 mit dem Fokus auf jüngere Pflegebedürftige vorgestellt. Eine Erkenntnis lautete, in Deutschland fehlten Tausende auf die Bedürfnisse dieser Zielgruppe abgestimmte Pflegeplätze und Möglichkeiten für Kurzzeitpflege. Bei ungefähr je einem Drittel der Jüngeren sind laut Rothgang Körperteile gelähmt, die Intelligenz gemindert oder es liege eine Epilepsie vor. Zehn Prozent hätten ein Down-Syndrom.

Frehe ist seit 40 Jahren in der Behindertenbewegung aktiv. Er hat Rothgangs Ausführungen zur Pflegesituation junger Behinderter nach eigenen Worten mit großem Erstaunen zur Kenntnis genommen. "Besonders befremdlich fand ich die Äußerung: Etwa jeder zweite Pflegebedürftige der Zehn- bis 29-Jährigen hat angegeben, dass sich der Wechsel in eine Wohngruppe oder in ein Pflege- oder Behindertenheim  zerschlagen hat, weil kein Platz in der Einrichtung vorhanden war“, so Frehe. "Es mag sein, dass die gesamte behindertenpolitische Diskussion der vergangenen 20 Jahre an Ihnen vorbeigegangen ist. Möglicherweise haben Sie auch nicht die Debatte um das kürzlich verabschiedete Bundesteilhabegesetz mitbekommen. Auch die Veränderungen durch die Pflegestärkungsgesetze 1 bis 3 scheinen an Ihnen vorübergegangen zu sein, obwohl dieses zu Ihrem Fachgebiet gehört", ärgert sich Frehe.

"Wir brauchen keinen einzigen neuen Platz in einem Pflege- oder Behindertenheim", schimpft der ehemalige Staatsrat. Der Auftrag in Artikel 19 der UN-Behindertenrechtskonvention fordere vielmehr, die stationären Angebote zurückzufahren, die in Deutschland überproportional aufgebläht vorhanden seien. Dieses Gesetz verbiete sogar, dass behinderte Menschen verpflichtet werden, mit anderen Behinderten in Sondereinrichtungen zu leben. "Wir brauchen vor Ort flexible bedarfsbezogene ambulante Unterstützungsleistungen, möglichst in Form der persönlichen Assistenz im eigenen Wohnumfeld, die ein selbstbestimmtes Leben und die volle gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht", so Frehe. Artikel 19 der UN-Behindertenrechtskonvention fordere daher den bedarfsdeckenden Ausbau kommunaler ambulanter Hilfen.

"Wir brauchen keinen einzigen neuen Platz in Heimen"

Aus diesem Grund sei im Sozialgesetzbuch das Recht auf Assistenzleistungen verankert worden. Im Bundesteilhabegesetz sei die Trennung von existenzsichernden Leistungen und Fachleistungen vorgenommen worden. Im Sozialgesetzbuch ab 2020 sei der Verweis auf besondere Wohnformen als Leistungsform eingeschränkt und bestimmt worden, dass für Menschen unterhalb der Altersgrenze in der Rentenversicherung die Pflegeleistung Teil der Eingliederungshilfeleistung wird. "Damit wird das Primat der sozialen Teilhabe vor der rein pflegerischen Versorgung bei behinderten Menschen deutlich gesetzlich verankert", argumentiert Frehe.

Rothgang Forderungen stellten eine Rolle rückwärts bei den gesellschaftlichen und rechtlichen Fortschritten dar – "die uns als Behinderte bei weitem nicht ausreichen", so Frehe. "Ihrem Vorschlag den Weg für Behinderte in ein bevormundendes, fremdbestimmtes und ausgegrenztes Leben am Rande der Gesellschaft zu fördern, stellen wir die barrierefreie Ausgestaltung des öffentlichen Personennahverkehrs, ausreichend barrierefreien Wohnraum, eine für alle nutzbare städtische Infrastruktur, auf Menschen mit Beeinträchtigungen eingestellte kommunale Dienste und insbesondere spezielle ambulante Assistenzdienste entgegen, die ein Leben mit persönlicher Assistenz ermöglichen", betont Frehe. Dabei gebe es große Defizite, weil die Kranken- und Pflegekassen das medizinische Modell von Behinderung vor Augen hätten. Sie verhinderten eine von den Betroffenen angeleitete Unterstützung. Rothgang lasse sich von den Kassen vor den Karren spannen.

Leserbrief Dr. Gerhild Alf

Leserbrief Kristine Rohdenburg

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